GPX-Daten der Etappe

Von der Bodenalpe zur Heidelberger Hütte führt ein gut befestigter Fahrweg mit hier und da kleineren steileren Abschnitten. Bei durchschnittlich 6 Prozent Steigung waren wir nach etwas mehr als einer Stunde dort, wo wir eigentlich gestern unsere Etappe beenden wollten.
Das Wetter hatte scheinbar ein Einsehen und wir bekamen mehr Wasser von unten ab als von oben. Wenn man bereit ist, das zu ignorieren, wird es einem nicht schwerfallen, sich an der Landschaft und der nur gelegentlich durch das Pfeifen eines Murmeltiers unterbrochenen Stille zu erfreuen.
Vor der Hütte wurden wir von vier Blondinen erwartet, die wir aber ebenso links liegen ließen, wie wir die Hütte anschließend rechts liegen ließen.
In einem von jeder Außenwahrnehmung abgekoppelten Teil meines Gehirns lag immer noch die Absicht verborgen, den heutigen Tag am Rifugio Fraele an den Laghi di Cancano zu beenden.

Für eine Alpenüberquerung sollte man in der Lage sein, bergauf 330 Höhenmeter in einer Stunde zu überwinden. Genau diesen Wert haben wir zum Fimberpass hinauf erreicht. Meistens hatten die Räder unserer Bikes dabei zwar Bodenkontakt, aber als Schieben konnte man das trotzdem nicht bezeichnen. Wir wuchteten die für diesen Zweck offenbar nicht konstruierten Fahrzeuge über Felsbrocken und Absätze und freuten uns über die kurzen Abschnitte, wo es einfach nur steil bergauf ging.

Eine Viertelstunde Pause, mehr gestattete uns die Temperatur und der straffe Reiseplan für diesen Tag auf der Passhöhe nicht. Da es trübe war und das herrliche Bergpanorama sich wirkungsvoll im Dunst versteckte, murrte auch niemand als wir uns auf die anspruchsvolle Abfahrt begaben.

Wir verglichen unsere Fahrkünste auf Trails, die wir bereits zuvor gefahren waren, immer mit unseren Erinnerungen an die vorherigen Male. Man muss allerdings zugeben, dass das ähnlich zuverlässig ist, wie das berühmte Anglerlatein.
Unser Gehirn wählt bereits sorgfältig aus, was es vergessen will und was es für behaltenswert hält. Im Hochgebirge kommt aber noch ein anderer Faktor hinzu. Die Trails sind nach jedem Winter, nach jeder Schneeschmelze und nach jedem Starkregen in einem oft gravierend anderen Zustand. Wo man vor einem Jahr noch über eine gut verdichtete Schotterschicht gefahren ist, hat das Wasser vielleicht inzwischen einen tiefen Graben freigelegt, auf dessen Boden scharfkantig der nackte Fels auf eine empfindliche Stelle eines Reifens oder auf ein unachtsames Schaltauge lauert.
Mit den jedes Mal wieder schwierigen, steilen und felsigen Passagen hat es aber in der Abfahrt vom Fimberpass auch jedes Mal wieder die gleiche Bewandtnis: Wenn man fällt, dann fällt man sehr hart.

Wenn man nicht gerade nach Sur En und zur Uinaschlucht will, ist die Abfahrt durch das Val Sinestra nach Sent und schließlich Scuol die attraktivste Möglichkeit, ins Inntal zu gelangen. Auf schmalen Pfaden über Wurzeln und kurze Rampen zwischen den Bäumen, über kleine Stege und lange Hängebrücken, die einen seekrank werden lassen, bietet die gesamte Strecke bis zum Hotel Val Sinestra dem Mountainbiker eine kleine Sensation nach der anderen.

Wenn man dort den Wildbach La Brancla überquert hat, geht es am Nordhang des Inntals zwar flussaufwärts, aber dennoch bergab, bis man in Scuol den Inn überquert.
Die Wege sind gut befestigt, zum Teil geteert und es ist kaum vorstellbar, wie man auf so kooperativem Untergrund platt fahren könnte.
Helmut tat genau das.

Seinem mit Milch besonders pannensicher präparierten Hinterrad war unvermittelt die Luft ausgegangen. Im Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte dieses System, begannen wir, reihum Luft in den Reifen zu pumpen. Immer, wenn er sich etwas aufblähte, hielten wir ihn in den Dorfbrunnen um den immer an der selben Stelle austretenden lustigen Bläschen ein wenig zuzusehen. Schließlich konnten wir Helmut zu einem Rückschritt in die velotechnische Steinzeit überreden. Ein Schlauch wurde in den Reifen gezogen und bis zum Gardasee verlor er nicht ein einziges der wertvollen schweizerischen Luftmoleküle in seinem Reifen.
Durch das Val Sinestra bis Sent hatten wir etwa eine Stunde gebraucht; die Reifenpanne kostete uns eine weitere.

Jenseits des Inns sollte der lange Anstieg zum Ofenpass beginnen. Es war bereits halb drei und wir ahnten, dass es knapp werden könnte. Ein Bus überholte uns, um kurz darauf an einer Haltestelle zu stoppen. Über dem rückwärtigen Nummernschild führte er einen großen Fahrradträger mit sich, in den wir locker unsere sechs Mountainbikes hätten einhängen können.
Ein kurzer Sprint brachte mich an das Fahrerfenster. Er fahre bis S’Charl teilte mir der nicht unfreundliche Chauffeur mit und ja, er könne auch unsere Räder transportieren.
Leider verhinderte das Schweizer Gesetz der großen Zahlen, dass wir auf diese Art eine Stunde Fahrzeit einsparen konnten: Man fragt einen Schweizer nach einem Preis und er präsentiert sofort große Zahlen.
Wir hätten für die 12 Kilometer nach S’Charl jeder 20 Euro bezahlen müssen. Aus Prinzip lehnten wir ab.

Unsere Standhaftigkeit wurde umgehend belohnt. Es begann wieder zu regnen.
Unverdrossen setzten wir unseren Weg fort.
Der Regen wurde stärker, schließlich goss es wie aus Eimern. Rainer erwartete uns am Ortsschild von S’Charl. Er hatte eine Gruppe Biker zerlegt, die nun aber inzwischen das Bikehotel direkt am Ortsanfang erreicht und sich dort vor dem Regen in Sicherheit gebracht hatten.
Es war inzwischen viertel nach vier und Gerhard bestätigte das Offensichtliche: Nie und nimmer würden wir es heute noch bis zum Rifugio Fraele schaffen, nicht bei diesem Wetter und schon gar nicht gegen die Strömung.

Die Biker der anderen Gruppe wirkten geradezu provokant gelassen. Wie sich herausstellte, weil sie ihr Tagesziel hier bereits erreicht hatten.
Sie hatten im Vorfeld reserviert, 70 Euro Halbpension, ein Schnäppchen für Schweizer Verhältnisse. Wir nickten uns bestätigend zu und Sigurd begab sich ins Hotel, um die Zimmer klarzumachen.
Fatalerweise fragte er dabei auch nach dem Preis: 120 Euro pro Person, wir hätten ja schließlich nicht reserviert.
Unser Hinweis auf die Diskrepanz zwischen 70 und 120 motivierte ihn, mit der Hotelleitung zu verhandeln.
„110 Euro, aber da geht noch etwas“, trug er uns seinen Zwischenstand vor.
„90 Euro, letztes Angebot“. Wir diskutierten.

Völlig unbemerkt hatte sich Rainer davongeschlichen und kam nun mit strahlender Miene zu uns zurück.

„75 Euro, und Wäscheservice. Da vorne gibt es noch ein Hotel.“

So kamen wir ins Crusch Alba in S’Charl, hatten ein tolles Abendessen, wunderschöne rustikale Zimmer im Nebengebäude „Ustaria“ und am nächsten Morgen das beste Frühstück unserer diesjährigen Tour. Dazu freundliche, hilfsbereite Wirtsleute und ein wenig Schadenfreude, dass in dem Bikehotel in dieser Nacht sechs Betten leer blieben.

Es kann sein, dass das Gesetz der großen Zahlen mehr eine Richtschnur als ein wirkliches Gesetz ist.

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