Sigurd hatte eine schlechte Nacht. Vielleicht hatte er auf der Etappe nach Pescul doch von dem kontaminierten Spritzwasser etwas in den Mund bekommen. Seiner Gesichtsfarbe nach hatte er irgend ein Bleichmittel getrunken. Wir untersuchten ihn noch auf Bissspuren am Hals und konnten damit die Vampirtheorie verwerfen. Jedenfalls verzichtete er auf sein Frühstück.
Wir mussten auf jeden Fall heute über die Cinque Croci ins Valsugana gelangen und mit Rücksicht auf Sigurds Unwohlbefinden verabredeten wir wieder einmal eine Abkürzung. Der aufmerksame Leser ahnt, wie das ausging.
Der Tag wusste noch nicht so recht, wie er beginnen sollte. Sonne stand auf jeden Fall nicht zur Disposition. Hin und wieder spieen die Wolken uns kleine Wasserspritzer entgegen, es hätte aber immer noch trocken bleiben können.
Auf gut befestigten Forstwegen geht es durch den Bosco Tognazza. Wir hatten es eilig, die geplante Route zu verlassen und verirrten uns deshalb zunächst zur Malga Crel. Sigurd nahm den kleinen Umweg gleichmütig hin.
An der nächsten Abzweigung ging es auf unsere Abkürzung, den Weg 350. In der Bilanz sparte uns diese Variante tatsächlich 100 Höhenmeter und 10 Kilometer Fahrstrecke. Auch war es landschaftlich, soweit man die Landschaft sehen konnte, durchaus reizvoll. Der Weg zur Forcella Calaita war jedoch sehr steil und man musste fast den ganzen Anstieg schieben, während man auf dem Weg oberhalb des Cismon praktisch alles fahren kann, wie wir 2016 herausfanden.
Meine Erinnerung an diese Abkürzung wird wohl auch noch durch den bald einsetzenden Regen beeinflusst. Als wir schließlich nass bis auf die Knochen am Rifugio Miralago am kleinen Lago Calaita ankamen, hatte der Himmel alle Hemmungen verloren und es schüttete wie aus Eimern.
Sigurd begann langsam durchsichtig zu werden, hatte es aber auch bis hier geschafft.
Wir gönnten dem Wetter genau zwei Capuccino und einen Apfelstrudel lang Zeit, sein destruktives Verhalten zu überdenken. Dann gab der Klügere nach und das waren ausnahmsweise wir.
Wir setzten Sigurd auf sein Fahrrad und im strömenden Regen ging es dann hinunter nach Canal San Bovo und von dort zunächst auf der Straße und später auf dem breiten Forstweg 1250 Höhenmeter hinauf zum Passo Cinque Croci.
Im Aufstieg wurde der Regen immer kälter und auf der Passhöhe waren es allenfalls noch fünf Grad. Für das Passfoto hoben wir Sigurd kurz vom Rad, wobei er sich aber weigerte, seine gebeugte Sitzposition aufzugeben.
Übrigens lohnt es sich nicht, eigens wegen der 5 Kreuze hier hoch zu fahren.
Die Abfahrt nach Süden ist bereits oben gut befestigt. Nach sechs Kilometern beginnt die Teerpiste über Strigno ins Valsugana.
Der Regen wurde wärmer und als wir im Tal waren hatte er bestimmt über 20 Grad. Außerdem wurde er schwächer, aber in dieser Hinsicht waren wir ihm meilenweit voraus.
In Borgo fanden wir kein Hotel. Man schickte uns weiter nach Roncegno Terme.
An der Rezeption des ersten Hotels, das wir aufsuchten, musterte man uns von oben bis unten und gab uns zu verstehen, dass dieses Hotel zu uns als Gäste nicht passen würde. Man schickte uns ein Stück weiter die Straße hinauf.
Im Albergo Villa Rosa fanden wir Unterschlupf. Bereits nach wenigen Minuten kam warmes Wasser aus dem Duschkopf und nach kaum einer halben Stunde hatte meine Körperkerntemperatur die 30 – Grad-Marke überschritten.
Irgendwo im Ort gab es eine Pizzeria. Im Laufe des Abendessens und einiger sich anschließender Biere begann Sigurd plötzlich wieder zu sprechen. Als wir uns alle überrascht in seine Richtung umdrehten, errötete er ein wenig und damit war die Vampirtheorie endgültig vom Tisch.