GPX-Daten der Etappe
Wir starteten in Gries am Brenner. Alles andere hätte einen Tag zusätzlich gekostet. Zunächst waren wir zu sechst. Rainer würde aber nur die erste Etappe mitfahren. Trotzdem war sein Rucksack so prall und schwer als hätte er ebenfalls Ausrüstung für acht Etappen dabei. Wir vermuteten sportlichen Ehrgeiz dahinter. Während wir uns zunehmend auf die technischen Anforderungen der Abfahrten konzentrierten, war für ihn der Anstieg der Gegner, den es zu bezwingen galt. Seinen Erfolg wollte er dabei sicher nicht einem leichteren Rucksack zugeschrieben bekommen.
Auf der Bundesstraße war einiges los und wir waren froh, als wir sie bereits vor dem Brennersee verlassen können. Der Pfad um den See herum war nicht besonders toll, hier und da musste man sein Rad über einen umgefallenen Baum heben, aber wir waren ja auch nicht auf dem Rennrad unterwegs.
Anstieg zur Enzianhütte Grenzkamm Enzianhütte Zum Schlüsseljoch
Im Ort Brenner gelangten wir auf den Eisacktalradweg. Der wäre wohl die Rennradvariante zum Gardasee gewesen.
Wir Genussradler zweigten aber bei der ersten Gelegenheit links ab. Zunächst sah es danach aus, als würden wir mit den Rädern auf die Autobahn geraten. Von dem Versorgungsweg für den Rasthof kann man jedoch glücklicherweise zum Gasthof Wolf abfahren. Die Bäume verschlucken bald den Lärm und den Blick auf die Autobahn und man befindet sich direkt im Anstieg zur Enzianhütte und zum Schlüsseljoch.
Kurz vor uns muss ein Sturm hier vorbeigekommen sein. Die Bäume lagen kreuz und quer, meistens war mit Motorsägen bereits eine Gasse geschnitten worden.
Erst weiter oben, wo der Wald sich etwas lichtete, konnte man wieder fahren.
Damit war es aber hinter der Enzianhütte auch schon wieder vorbei. Nicht nur, dass es steil wurde, auf dem losen Untergrund hätte man mit den Reifen nur Steinplatten nach hinten geschoben, ohne voranzukommen.
Das entsprach alles etwa unseren Erwartungen und so beklagte sich auch niemand.
Die Abfahrt nach Fussendrass ist auch für Anfänger komplett fahrbar. Wir machten uns also keine Sorgen, dass jemand zurückbleiben würde. Wie meistens fuhr ich mit dem Navi auf dem Lenker vorneweg, Gerhard war direkt hinter mir, und unsere Räder freuten sich, auf dem griffigen Untergrund aus Gras und Schotter einmal ausgiebig rollen zu können.
Während wir und unsere Räder also unseren Spaß hatten, spielten sich weiter oben dramatische Szenen ab.
Helmut hatte eine Schraube, die den Schalthebel am Lenker festhielt, verloren und alle vier durchsuchten nun den Schotter auf etwa 200 Meter Länge, um das unersetzliche Hightech-Produkt aus einer berühmten amerikanischen Fahrradschmiede wiederzufinden. Natürlich vergebens!
Gerhard und ich hatten das Fehlen unserer derart ausgebremsten Freunde inzwischen auch bemerkt und nach einer mehr als angemessenen Wartezeit begannen wir den Aufstieg auf der Suche nach Überlebenden.
Die Erleichterung auf unserer Seite war ebenso groß wie die Verzweiflung auf Helmuts Seite. Wir standen nun vor der Wahl, die Tour bereits am ersten Tag wegen des gravierenden technischen Defekts abzubrechen oder eine vergleichsweise bedeutungslose Schraube von einem Flaschenhalter zu verwenden und die Fahr- und Schalttüchtigkeit so wiederherzustellen.
Helmut und sein Fahrrad sträubten sich zunächst, ein Teil eines deutschen Onlinehändlers auch nur vorübergehend zu akzeptieren, fügten sich dann aber in das Unvermeidliche.
Die untere Schraube meines Flaschenhalters ersetzte ich durch einen Kabelbinder, von denen man immer welche dabei haben sollte.
Fussendrass hat mehr Buchstaben als Häuser.
Rainer offenbarte uns nun seinen diabolischen Plan. Vor dem langen Anstieg verteilte er einen Großteil dessen, was er im Rucksack mitschleppte an uns und nach genauer Inspektion waren wir mehr als bereit, ihm diese Last auch abzunehmen. Es handelte sich im Wesentlichen um gute Hausmacher Wurst, es gab aber auch etwas Butter und Brot. Außerdem hatte er ein Messer dabei, mit dem im Rucksack man besser nicht stürzen sollte.
Bei 14 Prozent Steigung kann man keine natürliche Haltung auf dem Fahrrad einnehmen. Wir mussten den Schwerpunkt über das durch Wurst und Brot verursachte Maß hinaus nach vorne verlegen. Im kleinsten Gang hatten wir dann eine Zeitlang das Gefühl, wir könnten den Berg auf diese Art bezwingen. Während wir aber zu schwitzen und zu keuchen begannen, behielt der Berg einfach gleichmütig seine Steigung bei. Einer nach dem Anderen erfanden wir Ausreden, warum wir jetzt auch einmal ein wenig schieben wollten.
Oben zogen sich Wolken zusammen und die Sorge, ob der Pass überhaupt schneefrei sei, begann uns zunehmend zu beschäftigen. Ein kleines Schneefeld unterwegs verhieß nichts Gutes.
Kurz unterhalb der Passhöhe verschwand unser Weg dann tatsächlich unter einer ausgedehnten Schneedecke. Es war nicht besonders steil und es gab Spuren von Wanderern oder Mountainbikern, die vor uns hier durchgekommen waren. Etwas mulmig war uns dennoch. Gerhard war vor einigen Jahren in einem Schneefeld ins Rutschen geraten und hatte sich dabei einen Fuß gründlich zertrümmert. Entsprechend vorsichtig gingen wir zu Werke.
Wir befanden uns mitten in den Wolken, die wir von unten gesehen hatten, als wir die Passhöhe erreichten. Es war finster wie in der Nacht und wir bildeten attraktive Kondensationskeime für die hohe Luftfeuchtigkeit.
Ein Weg war kaum zu erkennen und nur das Navi machte brauchbare Vorschläge über die einzuschlagende Richtung.
Das Schneefeld türmte sich hier an der Ostseite des Passes zu einer zwei bis drei Meter hohen Wand auf und speiste einen ansehnlichen Bach, den wir aber irgendwo abseits unseres eigentlichen Tracks trockenen Fußes überqueren konnten.
Ständig verloren wir uns aus den Augen und es war ein stetiges „Wo seid Ihr?“ und „Hier lang!“ bis wir endlich wieder vom Sattel aus unsere Vorderräder sehen konnten. Einstmals endemische Tierarten sind seit dieser Kakofonie in der Umgebung des Jochs nicht mehr gesehen worden.
Ein Pfad schälte sich aus dem Nebel. Ein vom Schmelz- oder Regenwasser tief eingeschnittener brauner Streifen in dem inzwischen grünen Hang. Die Rinne war breit genug zum Fahren und der Boden blieb uns nicht in den Reifen hängen.
In der ersten Kehre war der Graben etwa einen Meter tief.
Anhalten, absteigen! Gerhard verlor das Gleichgewicht und schnitt mit einer Rolle rückwärts die Kehre einfach ab. Der Graben, der unser Weg war, stoppte ihn. Er prallte mit dem Rucksack heftig gegen die talseitige Wand. Unsere spätere, unfachmännische Diagnose lautete „Schleudertrauma“.
Zunächst noch etwas verhalten und mit dem Schrecken in den Gliedern setzten wir den Abstieg fort.
Der Trail ging bis zur Weitenbergalm, wo wir mit Suppe und natürlich alkoholfreiem Weizenbier unseren Elektrolythaushalt wieder in Ordnung brachten. Von dort führt ein gut befestigter, auch mit dem Auto befahrbarer Weg ins Tal hinunter.
Man kann es an einigen Stellen ordentlich krachen lassen und wir alle fanden zu unserem Optimismus und dem Spaß am Radfahren zurück.
Schließlich fuhren wir auf Teer bis nach Weitental, wo wir im Moarhof eine durch und durch empfehlenswerte Unterkunft fanden.
Unsere Abfahrt war durch die Wetterbedingungen und den Sturz sicher etwas beeinträchtigt. Aber auch ohne das würde ich nicht von einem „Holy Trail“ sprechen, wie man das in manchen Foren lesen kann. Selbst im Idealfall muss man den endlos langen Anstieg von Fussendrass auf die andere Waagschale legen. Wir waren stolz, es über den Pass geschafft zu haben, aber nur der Abfahrt wegen würde ich diese Strapaze nicht auf mich nehmen.
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