
Als wir uns endlich auf den Weg machten, hatte meine Planung bereits einen halben Tag und eine halbe Etappe Vorsprung. Irgendwann würden wir betrügen müssen, um wieder aufzuschließen.
Die geplante Route zum Ofenpass verläuft zunächst fast vollständig auf gut befestigten Wegen. Hinter der Alp Champatsch gibt es ein etwas längeres Stück, etwa einen Kilometer, wo man schieben darf, ohne sich schämen zu müssen. Dort ist aus dem Fahrweg dann auch ein Pfad geworden, auf dem es aber ebenfalls gut rollt. Es folgen einige kurze Rampen, die einen aus dem Sattel zwingen, aber schnell überwunden sind.
Erst kurz vor dem Pass kommt man in etwas unwegsameres Gelände. Das wussten wir aber, weil wir 2013 genau diesen Weg genommen hatten. Mein Track biegt daher scheinbar unnötig noch zur Passtraße ab und legt die letzten Höhenmeter auf Teer zurück.






Bedrohlich hingen noch einige dunkle Wolkenfetzen am Himmel und behaglich warm war es auch nicht, als wir etwas widerwillig das gemütliche Crusch Alba verließen.
Die Bewegung sorgte bald aber für eine ordentliche Betriebstemperatur und die großartige Landschaft für die dazu passende Laune.
Während man durch den Dunst hindurch vereinzelt auch eine felsige Bergspitze sah, war um uns herum alles grün und überall musizierten die einheimischen Rinder mit ihren harmonisch aufeinander abgestimmten Glocken. Hier und da tauchte ein Gebäude in der Nähe unseres Weges auf. Menschen sahen wir jedoch keine. Das war wohl die nächste Stufe der Automatisierung: Rinder, die sich selbst versorgen. Obwohl: Möglicherweise gab es das ja schon einmal.
Es ging immer nur so lange bergauf, bis man kurz davor stand, die Lust daran zu verlieren. So gelangt man über Pass de Costainas, Juata und einige namenlose Anstiege schließlich zum Pass dal Fuorn, dem Ofenpass.
Die wohlhabenderen Mitglieder unserer kleinen Reisegruppe gönnten sich ein Sandwich am Imbiss. Gerhard ging es daraufhin aber immer noch nicht besser. Er war in Sorge, uns aufzuhalten und wollte in den Vinschgau abfahren.

Schließlich konnten wir ihn zu einem Chickenway überreden: Etwa 10 km weiter westlich und etwa 400 Höhenmeter unterhalb des Ofenpasses zweigt eine Straße südlich nach Livigno von der Ofenpassstraße ab. Sie verläuft zwar im Wesentlichen durch den schmalen Munt-la-Schera-Tunnel, der vernünftigerweise für Radfahrer gesperrt ist, es gibt aber einen Shuttleservice, der Fahrräder auf dem Anhänger sammelt und auf der jeweils anderen Seite, praktisch direkt an der Staumauer des Lago di Livigno mit seinen Besitzern zusammen wieder entlässt.
Letztlich hat das wohl sehr gut geklappt und Gerhard und Rainer waren nach einer dreiviertel Umrundung des Sees lange vor uns bereits am Ristoro Val Alpisella.







Wir anderen zweigten nur ein wenig westlich der Passhöhe zur Alp Buffalora ab. Nach nur wenigen Metern begann der Weg anzusteigen und zwang uns bald aus den Sätteln. Je nach Form und Ehrgeiz muss man hier mit etwa 150 Höhenmetern auf Schusters Rappen rechnen. Links des Weges wird man von dem fast 3000 m hohen Piz Daint begleitet, den wir 2013 auf schmalen Pfaden an seinem östlichen Hang passiert hatten.
Bereits damals war der Plan, von der Fuorcla del Gal den Gallo-Trail zum Lago di Livigno abzufahren. Wir fürchteten damals, nicht rechtzeitig am Rifugio Fraele zu sein und querten deshalb zum vermeintlich kürzeren Weg über das Val Mora.
Rückblickend war das die falsche Entscheidung, dauerte das doch 20 Minuten länger als unsere diesjährige Fahrt auf dem Gallo-Trail zum Lago di San Giacomo.
Der Gallo-Trail ist ein gutmütiger, nicht sehr steiler Weg mit vielen gut fahrbaren Kehren der uns sehr viel Spaß gemacht hat.
Kurz oberhalb des Sees gerät man auf ein Geröllfeld und hier habe ich dann doch ein wenig geschoben, aus der unbegründeten Angst heraus, bei einem Sturz bis in den See hinunter zu fallen. Den Spott meiner drei Begleiter nahm ich gelassen hin.
Der See bettelte ständig, fotografiert zu werden und dem war auch kaum zu widerstehen.
Im Nordwesten konnten wir in der Ferne die Staumauer erkennen, über die Rainer und Gerhard auf dem Weg nach Livigno fahren mussten.
Der kurze Anstieg hinter dem östlichen Ende des sichelförmigen Stausees führte uns an der Torrente Aqua del Gallo entlang in zwei sanften Stufen hinauf zum Lago di San Giacomo, dem oberen der beiden Cancano-Seen, der sich unter anderem aus dem Wasser der Adda speist, die oben, am Passo di Alpisella entspringt, über Bormio und Tirano, durch den Comer See und den Lago di Garlate in die Poebene hinunter fließt, wo sie kurz vor Cremona nach 313 km als viertlängster Fluss Italiens von einem Strom mit nur zwei Buchstaben verschlungen wird.
Wir kurbelten gegen die Strömung etwa drei Kilometer steil hinauf, bis der Berg endlich ein Einsehen hatte und uns sachte auf die bevorstehende Abfahrt vorbereitete.




Diesen Weg zum Lago di Livigno hinunter waren wir 2013 schon einmal gefahren. Er war nach wie vor nett, kam uns noch etwas einfacher vor und endete wie damals am Ristoro Val Alpisello, wo wir Gerhard und Rainer inmitten des Gedränges wiederfanden.
Wir suchten auf gut Glück nach einer Unterkunft und blieben am „Camere Libere“-Schild der Baita Cecilia hängen. Zum überraschend fairen Preis wurden wir dort sehr ordentlich untergebracht und bekamen am nächsten Morgen sogar noch ein richtiges, unitalienisches Frühstück mit Käse und Speck und allem, was man sonst noch braucht, wenn man wieder einen Tag lang im Sattel verbringen möchte.
Vor dem Abendbrot in einer Pizzeria in der Nähe blieb sogar noch etwas Zeit, durch den Ort zu bummeln. Hier war im Sommer bereits überall ordentlich Betrieb und ich mochte mir nicht vorstellen, wie es hier im Winter aussieht.