



Zwei Extreme standen uns heute bevor: Die traumhafte Abfahrt vom Passo Val Viola durch das Val da Camp nach Poschiavo und der brutale Anstieg zum Mortirolopass.
Der Tag hatte einen beinahe perfekten Start. Wir hatten Kaiserwetter und mein Navi war nach langer Krankheit wieder genesen. Perfekt wäre er mit einem Südtiroler Frühstück gewesen.




Wir sind bereits 2018 hier vorbeigekommen und haben damals den Weg oberhalb der Case di Viola genommen. Dieser führt durch einen tiefen Graben und man muss ein ganzes Stück schieben. Der Hauptweg ist besser, er ist bis zum Pass gut befahrbar.
Kurz vor der Passhöhe knickt er rechts ab und diesem Knick sollte man unbedingt folgen. 2018 sind wir hier geradeaus weiter und haben unsere Räder auf einem felsigen und unwegsamen Steig etliche Höhenmeter nach unten getragen. Das war gleich doppelt ärgerlich, weil uns dadurch auch ein Teil des wunderbaren Trails entgangen ist, den wir dieses Jahr gefahren sind.
Insgesamt ist man gut beraten, wenn man komplett oder mindestens bis zur Bushaltestelle Rügiul Pag, das ist etwa 300 Meter hinter dem Rif Saoseo, der Streckenführung der Trans-Altarezia-Bike folgt.




Die Abfahrt selbst ist ein absoluter Traum. Der Weg ist mit Sicherheit so präpariert worden, dass er durchgängig mit dem Mountainbike gefahren werden kann. Dabei hat man sich aber auf das allernotwendigste Maß an Eingriffen beschränkt und so wirkt alles sehr naturbelassen. Man findet steile Stellen, verblockte Stellen, Rollpassagen, Haarnadelkurven, groben Schotter und Leiterbögen über Bäche oder Weidendrähte. Während man bereits von einer Postkartenlandschaft umgeben ist, sieht man über das Talende hinaus immer wieder das Berninamassiv mit dem riesigen Palügletscher.
Bald tauchen die ersten Kiefergehölze auf und der Weg beginnt, sich zwischen den niedrigen Bäumen hindurch zu schlängeln.
Das ist auch ungefähr die Stelle, wo wir den besseren Weg verlassen haben. Die Bilder des Lago Saoseo waren zu verlockend und bei OSM fand ich einen Pfad zum See, der weder zusätzliche Höhenmeter noch einen Umweg kosten würde.

Wir bereuten diesen Abstecher sehr schnell. Nach wenigen Metern war auch an Schieben nicht mehr zu denken. Die Räder mussten über Felsblöcke, Baumstämme und Wurzel gehoben werden. Der Pfad war auch für Wanderer schwierig.
Mitten in dieser Wildnis hat man ein perfektes Handynetz und so schickten wir wenigstens einige Live-Bilder nach Hause, in der Hoffnung, dort würde man sich mehr ärgern nicht hier zu sein als wir uns ärgerten, hierhergekommen zu sein.
Auch vom See weg konnte man praktisch nicht fahren. Die einzige Ausnahme war ein kleiner Steg mit einer winzigen Treppe am Ende. Johannes überschlug sich vor Freude.

Da das auf dem Fahrrad sitzend jedoch schwerlich möglich war, entwickelte er eine Technik, die heute in den maßgebenden Mountainbike-Lehrbüchern als der „gepflegte Schweizer Abgang“ Einzug gefunden hat. Die einzelnen Bewegungsschritte sehen vor, auf einer kleinen Wurzel die Vorderradbremse zu betätigen, die Ellbogen anzuwinkeln und zur Begutachtung der Situation den gesamten Oberkörper über die Vorderradnabe zu bringen. Für die Ästhetik der Figur ist es unerlässlich, dass die Füße während der gesamten Bewegungsphase in den Pedalen eingeklickt bleiben.




Der Weg, der uns zur Route der Trans-Alta-Rezia-Bike zurückführen sollte, war an diesem, Tag womöglich für Radfahrer gesperrt. Wir vermuteten das anhand der missmutigen Gesichter, die einige der uns entgegenkommenden Wanderer neben ihrer üblichen Ausstattung mitsichführten. Bei der Markierung der Strecken hatten die Veranstalter wohl nicht einkalkuliert, dass Radfahrer vom See her kommen könnten.
Wir hatten den Wald inzwischen wieder verlassen und die Landschaft und zwei geschäftstüchtige Kinder zeigten uns, was sie zu bieten hatten.
Ein Grund, die Trans-Alta-Rezia-Bike-Route an der Bushaltestelle Rügiul Pag zu verlassen, ist ein etwa 300 Meter langes und sehr steiles Stück durch einen Lärchenwald. Auf losen Steinen und Steinplatten, über dicke Wurzeln und offenliegende Felsrücken galt es, so dosiert zu bremsen, dass der Untergrund nicht die Kontrolle über die Fahrtrichtung übernahm. Mit unglaublichem Geschick, das ist eine andere Umschreibung für das Wort Glück, gelangte ich auf vertrauenswürdigeren Untergrund. Die Mischung aus Stolz und Erleichterung, die sich nach einem solchen Erlebnis einstellt, ist einer jener Momente beim Mountainbiken, die man mit keinem Foto und keinem Film mit nach Hause nehmen kann und dennoch ständig mit sich herumträgt.

Die Trans-Alta-Rezia-Bike folgt nun einem breiten, gut befestigten Fahrweg, der mit einem steten auf und ab am Osthang des Val Poschiavo fleißig Höhenmeter sammelt.
Dort, wo diese Forststraße beginnt, verließen wir deren Route und vernichteten auf zwei Trailabschnitten von zusammen etwas mehr als vier Kilometern noch einmal 550 Höhenmeter, bevor wir im kleinen Örtchen Pedecosta in die Zivilisation und auf geteerte Wege zurückkehrten.
Im Vergleich zu dem Fahrweg, den wir 2018 ausprobiert hatten, waren diese Naturtrails mit ihrem ruppigen Untergrund die deutlich bessere Alternative auf unserem Weg nach Tirano.







Bis Tirano galt es nun Strecke zu machen. Weil es immer leicht bergab ging, fiel uns das auch nicht schwer.
Bis Miralago am Südende des Lago di Poschiavo vermieden wir die Hauptstraße auf netten Wegen, Pfaden und Nebenstraßen. Hinter dem See wird die Straße allerdings dann steil genug, um mit dem Fahrrad im fließenden Verkehr mitrollen zu können.
Vorbei an Brusio, wo der berühmte Viadukt der Räthischen Bahn zu bewundern ist, und ebenfalls vorbei an der wartenden Fahrzeugkolonne am Grenzübergang nach Italien, waren wir im Nu in Tirano angelangt, wo uns ein freundlicher Lebensmitteleinzelhändler gegen einen kleinen Obolus mit leckeren Sandwiches und kalten Getränken versorgte.
Tirano liegt nur etwa 400 Meter über dem Meer. Wir hatten den ganzen Tag schönes Wetter. Hier war es nun unangenehm heiß.






Obwohl wir vor dem eigentlichen Anstieg zum Mortirolo auf dem sehr schön angelegten Sentiero Valtellina nicht einmal 100 Meter an Höhe gewannen, begann uns die Fahrerei doch bereits zu strapazieren.
Der Passanstieg selbst bescherte uns die versprochene Tortur. Hinter dem Ort Mazzo wurde es direkt steil. Nach einigen Metern gelangten wir an die erste Kehre, die freundlicherweise die Nummer 33 trägt. Von nun an zählt man herunter. Bis zur Kehre Nummer 4 am Rifugio Antonioli galt es durchzuhalten.
Vor jeder Kehre erwartete ich, dass es nun etwas flacher würde und jedesmal wurden meine Erwartungen enttäuscht.
Ich war bereits 2016 einmal hier und damals sind wir bei Regen und Kälte zur Passhöhe hinaufgestampft. Die Hitze am heutigen Tag war schlimmer.
Ich war mit großem Ehrgeiz gestartet und konnte die anderen auch bald etwas distanzieren. Ehrgeiz ist nur leider keine Flüssigkeit und bald war es genau das, was mir fehlte.
Irgendwann wurde ich von einem Kamerateam überholt, das mich aus dem offenen Fenster seines Wagens filmte. „Na also“, dachte ich. Endlich jemand, der meine Leistung zu würdigen wusste.
Dann wurde ich allerdings von einem Rennradfahrer überholt, dem das eigentliche Interesse der Kamera galt. Immerhin munterte er mich mit einigen italienischen Worten auf und gab mir kurz und telegen die Hand, während er an mir vorbeifuhr.
Es war nicht Marco Pantani.
Kurz unterhalb der Kehre vier, kaum einen Steinwurf vom Rifugio entfernt, gibt es eine weitere Wasserstelle außer der, die ich im Anstieg übersehen hatte. Ohne mindestens einen Liter Wasser getrunken zu haben, wollte ich nicht weiterfahren.
150 Meter später wurde ich am Rifugio Antonioli von kaltem Radler und dem Kamerateam von unterwegs erwartet. Der Star der Sendung, Vittorio Brumotti, gab gerade ein Interview, während er mit einer verlockenden Antipastiplatte und einem Glas Rotwein beschäftigt war.
Hans kam ein wenig später und war etwas enttäuscht, dass er nicht bis zur Passhöhe fahren durfte. Auf Helmut und Johannes mussten wir noch eine Dreiviertelstunde warten und begannen uns ernsthaft Sorgen zu machen, ob wir nicht ein Zimmer zu viel reserviert hatten. Als sie endlich kamen erklärte sich auch die Verspätung. Johannes hatte wegen seines schmerzenden Kniegelenks die Hälfte des Anstiegs geschoben.
Am Rifiugio Antonioli herrschte eine sehr familiäre Atmosphäre. Wir bekamen ein sehr ausgiebiges Abendbrot und zum italienischen Frühstück am nächsten Morgen saßen wir mit den Wirtsleuten im Gastraum am selben Tisch.
Nebenbei hat man von dort einen wunderbaren Blick über das Valtellina und es herrscht trotz der nahen Straße eine geradezu himmlische Ruhe.
Wer eine Unterkunft für eine Transalp in dieser Gegend sucht, ist mit dem Rifugio mit Sicherheit gut beraten.