Quelle: GoogleEarth
Wir hatten heute 250 Höhenmeter auf dem Programm stehen. Die übrigen 1700 Meter überließen wir dem Fahrradbus von Dimaro nach Campo Carlo Magno kurz vor Madonna di Campiglio und der Grostè Seilbahn.
Man hätten natürlich von Dimaro aus auch den schönen Waldweg am Meledrio-Bach entlang kurbeln können. Dann wäre uns allerdings vielleicht zu wenig Zeit für etwas Wichtigeres geblieben.
Auch die Auffahrt auf der Schotterpiste zum Rifugio Grostè hätten wir uns zumuten können. Aber wir hatten wie gesagt wichtigeres im Sinn.
Von der Südspitze des Turrion Basso gibt es einen 18 Kilometer langen Weg, das meiste davon allererlesendster Singletrail, zur Galleria di Terres am Nordende des Val di Tovel.
Wenn jemand Zweifel hat, ob Mountainbiken für ihn der richtige Sport ist, soll er dieses Stück fahren. Wenn es keinen Spaß gemacht hat, soll er sich Golfschläger zulegen.
Der Bikebus nach Madonna fährt nach einem Fahrplan, den man auch im Internet einsehen kann.
Er hatte ein wenig Verspätung, aber darin liegt ja der Sinn von Fahrplänen.
Ich weiß den Fahrpreis nicht mehr, aber es war ausgesprochen günstig.
Für die Grostè-Seilbahn ist es am besten, in Campo Carlo Magno auszusteigen.
Kurz hinter Dimaro begann es zu regnen.
An der Grostè-Seilbahn erkundigten wir uns nach dem Wetter auf dem Berg. Die freundliche Kassiererin rief an und ein Schatten kroch über ihr Gesicht. „Heftiger Regen“, gab sie uns zu verstehen. Dann hustete sie eine Temperaturangabe in ihr Taschentuch, in der Hoffnung, wir würden sie nicht verstehen.
Wir verstanden kein Wort.
An der Bergstation goss es und es war eisig kalt.
Johannes fand ein Wolkenradar und prophezeite uns eine Wolkenlücke, die uns in etwa einer Stunde erreichen würde. Also setzten wir uns in den Gastraum am Rifugio, tranken einen Cappuccino oder einen Kakao und warteten ab.
Eine Stunde später zeigte sich eine Wolkenlücke, der Regen ließ nach und wir brachen auf. Im kurzen Anstieg zum Passo del Grostè hatte man bereits wieder einen wunderbaren Blick auf das Adamello-Massiv im Osten.
Nach Westen hin begann der Abstieg, der einem etwa eine Stunde lang nur kurze Stücke im Sattel erlaubte. Erst von dem niedrigen Rücken zwischen Turrion Basso und Turrion Alto an kann man ohne größere Unterbrechungen fahren. Kurz davor gibt es sogar einen giftigen Anstieg, wo man das Fahrrad tragen muss.
Der Turrion Basso ist ein außergewöhlicher Berg. Aus der Richtung, aus der wir kamen, sieht er aus, wie ein riesiges Schiff, das sich seinen Weg aus dem Val di Non herauf bis kurz vor die schroffe Wand des Turrion Alto gebahnt hat.
Wenn man endlich den Bug dieses Berges erreicht hat, sieht er tatsächlich aus wie der Bug eines Schiffes.
Der Trail scheint sich nun nach Südosten fortzusetzen, biegt aber tatsächlich an einer unscheinbaren Kreuzung talwärts nach Norden ab. Geradeaus würde man zum Passo Gaiarda gelangen und dahinter auf angeblich für Biker ungeeigneten Wegen hinunter nach Molveno oder Andalo.
Sobald man an dieser Kreuzung links abgebogen ist, befindet man sich endgültig im Mountainbiker-Himmel. Umgeben von einer unvergleichlichen Bergkulisse geht es auf einem schmalen, zunächst etwas steinigen Pfad am Osthang des Turrion entlang.
Bald weitet sich das Tal und der Untergrund wechselt zwischen Steinplatten und immer häufiger festem Grasboden.
Der Weg selbst ist das einzige Zeichen menschlicher Zivilisation in dieser Gegend, könnte aber auch von marodierenden Bären angelegt worden sein.
Johannes Wolkenlücke folgte uns treuherzig und so konnten wir als kleine kulturelle Errungenschaft bei weiß blauem Himmel den Mittagsimbiss in diese Wildnis einführen.
Zur Malga Flavona hinunter wurde es steil und es erforderte ein wenig Geschick, auf dem steinigen Pfad die Kurven zu meistern.
Noch steiler wurde es kurz darauf durch die Kehren oberhalb der Malga Pozzol.
Vermutlich um den Weg zu stabilisieren und das Wasser abzuleiten, waren alle paar Meter dicke Rundhölzer schräg über unsere Fahrbahn gelegt. Auch in den Kurven gab es da keine Ausnahme. Glücklicherweise war das Holz schon ganz gut abgetrocknet. Trotzdem versuchten wir die Hindernisse immer möglichst rechtwinklig zu erwischen oder, wo es ging, zu umfahren. Das war natürlich eine zusätzliche Herausforderung, die die Abfahrt noch anspruchsvoller gestaltete.
Als am Ende des Steilstücks alles gut gegangen war, war es ein wunderbares Erlebnis und für die Senioren in unserer Gruppe ein Beweis, dass man auch noch in unserem hohen Alter seine Fähigkeiten erweitern und zunächst scheinbar unmögliche Dinge schließlich doch bewerkstelligen kann.
Nachdem wir den kristallklaren Bach, dessen Name klingt, als würde er Heilwasser führen, überquert hatten, war es erst einmal vorbei mit Singletrails. Hinter der Malga Pozzol führte ein Fahrweg bis zum Lago di Tovel hinunter.
Auf halber Strecke wird dieser Weg wohl regelmäßig von Gerölllawinen verschüttet. Hier war der Untergrund ein wenig tückisch und man musste etwas Tempo herausnehmen. Im letzten Abschnitt kamen dann einige zum Teil auch enge Kurven dazu.
Unsere Fahrt war längst zu einem Rennen geworden und die erste scharfe Kurve forderte dann auch ihren Tribut. Noch etwas siegestrunken vom Skatspiel des Vorabends und außerhalb des Wirkungsbereichs der Glaubensbrüder in Dimaro trat Johannes beim Beschleunigen ins Leere, weil er einen zu kleinen Gang eingelegt hatte. Die Sicherheitsbindung funktionierte, gab seinen Fuß frei und der plötzliche Bodenkontakt erledigte den Rest.
Selbst als er sich wieder aufrappelte und auf das Rad stieg, war fast niemand von uns so charakterlos, auch nur einen Hauch von Schadenfreude zu empfinden.
Durch unser hohes Tempo hatten wir die Wolkenlücke, die gerade im Begriff war uns zu überholen, wieder über uns zentriert. Ein sporadisches Donnergrollen bewog uns allerdings, am wunderbaren Lago di Tovel nicht lange zu verweilen.
Wir sind im vergangenen Jahr schon einmal hier gewesen und haben ihm damals die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Durch gelegentliche Blicke zur Seite konnten wir uns aber davon überzeugen, dass er noch genauso schön war wie bei unserem letzten Besuch.
Am See beginnt die Straße hinunter ins Val di Non. Dem Mountainbiker bietet sich als Alternative der Sentiero delle Glare, ein liebevoll angelegter Pfad, zunächst durch den Wald, später durch die Geröllfelder östlich der Straße und ganz unten, vor der Galleria di Terres wieder durch bewaldetes Gelände.
Überraschenderweise begegneten wir nur in der unmittelbaren Nähe des Sees dem ein oder anderen Spaziergänger, obwohl dieser Weg sicher auch für Wanderer ein Leckerbissen ist.
Für uns ging es praktisch ständig bergab, zunächst ziemlich steil mit einigen auch hohen Stufen, von denen eine den Bashguard an meinem Kettenblatt erledigte. Später führte der Pfad mit vielen engen Kurven durch ein ausgedehntes Geröllfeld und man musste gut steuern, um nicht an den dicken Brocken hängenzubleiben. Die technische Schwierigkeit im unteren Bereich sind etliche Stege, gerade so breit wie ein Fahrradlenker oft mit ein oder zwei Stufen an jedem Ende.
Die Wolken holten wieder auf und hin und wieder erwischte uns ein Tropfen. Wir befanden uns aber bereits fast in Sicherheit. Das Tor zur Unterwelt stand im Gegensatz zum vergangenen Jahr offen und im Tunnel selbst funktionierte auch die Beleuchtung wieder.
Die Galleria di Terres ist eine etwa 2,5 km lange Tunnelröhre, die wohl ursprünglich der Wasserversorgung diente. Als sie dafür nicht mehr benötigt wurde, traf man die Entscheidung, sie für Wanderer und Radfahrer freizugeben.
Die Beleuchtung reicht gerade, um nicht gegen die Wände zu fahren und überall tropft von oben Wasser aus dem Gestein. Der Weg durch den Tunnel war völlig flach und ersparte uns etliche Höhenmeter auf dem Weg zu dem Sentiero Margherita am Osthang dieses Ausläufers der Brentadolomiten. Und ein kleines Erlebnis war es auch.
Als wir den Tunnel an seiner Ostseite verließen, hatten wir auch gleichzeitig das schlechte Wetter abgehängt. Die Wolken passten wohl nicht durch die Röhre und nachdem sie bereits den Passo Grostè überquert hatten, waren sie zu faul für den 1200 Meter hohen Bergrücken, unter dem wir hindurch geradelt waren.
Es war warm, ein wenig schwül, aber klar und man hatte einen schönen Blick über das fruchtbare Tal des Noce, der etwas weiter im Süden, kurz vor Trient in die Etsch mündet.
Der Sentiero Margherita begleitet einen wohl ebenfalls nicht mehr genutzten Bewässerungskanal mit ganz leichtem Gefälle nach Süden und ist etwas für Genussradler. Meistens ist es ein vorbildlich gepflegter, breiter Weg auf festem, feinem Kies und kurz bevor man beginnt, sich nach etwas Abwechslung zu sehnen, wird er schmal und drückt sich an oder in die schroffen Felswände, immer noch gut befahrbar, aber ein leichtes Kribbeln durch den Abgrund jenseits des Geländers verursachend. Alles in allem, die perfekte Art, einen wunderschönen Tag ausklingen zu lassen.
In Sporminore hatten wir auch im vergangenen Jahr unsere vorletzte Etappe beendet. Die Wirtsleute im einfachen Albergo Ristorante Nardelli waren uns in sehr guter Erinnerung geblieben und so kehrten wir auch in diesem Jahr wieder hier ein. Wir waren die einzigen Gäste, was schade ist, weil Sporminore durch seine Lage ein guter Etappenort auf dem Weg zum Gardasee ist und ein Hotel dort nicht in Schwierigkeiten geraten sollte, besonders, wenn es von so netten Menschen betrieben wird.
Nach dem Abendbrot auf der Terrasse hinter dem Haus setzten wir uns in die Gaststube und spielten ein paar Runden Skat.
Helmut gesellte sich zu den Einheimischen an der Theke und verwickelte schnell alle in lebhafte Gespräche. Natürlich konnte er kein Italienisch und die Italiener kein Deutsch. Also einigte man sich auf Englisch, das konnten beide nicht.
Es entbrannte bald ein Streit über Helmuts Alter, in den wir als Zeugen hineingezogen wurden. Als wir die von ihm genannten 75 Jahre bestätigten, wandte sich das Interesse der sechs oder sieben Gäste uns zu, vielleicht auch ein wenig, weil Helmut plötzlich verschwunden war.
Ein ortsansässiger Winzer brachte uns drei riesige Probiergläser seines eigenen Rotweins, der lecker war, ein anderer verblüffte uns mit seinen Kartentricks, die er uns sogar noch erklärte und ein dritter manipulierte Porträtbilder mit seinem Smartphone und gab seine Ergebnisse zum Besten. Wir lachten und gestikulierten und riefen uns unverständliche Sätze zu und schafften es trotzdem irgendwann, einigermaßen betrunken diese lustige und freundliche Gesellschaft zu verlassen und etwas Erholung für unsere letzte Etappe zu finden.
Ganz egal, was ich über Höhenmeter gesagt habe: Das war eine Königsetappe.