GPX-Daten der Etappe

Niemand sprach es aus. Aber bereits beim Frühstück lag die Erwartung in der Luft, dass die heutige Etappe einen besseren Verlauf nehmen würde als die gestrige.
Der Druck wurde durch den Umstand verstärkt, dass wir eigentlich in Breno starten wollten, das noch in weiter Ferne lag. Wir starteten vor acht.

Bis zum Rifugio Bagozza ging es auf Teer ständig bergab. Von der kaum befahrenen Straße hat man einen schönen Blick nach Osten, wo in der Ferne der Pizzo della Presolana den Blick nach Bergamo versperrt.

Ermutigt durch den bisher reibungslosen Verlauf, wagten wir uns auf den Wirtschaftsweg zum Passo di Campelli. Es war zwar steil, aber Schieben war gestern.

Für den Abstieg ins Valcamonica wählten wir den Expressweg. 1350 Höhenmeter vernichteten wir mit einer durchschnittlichen Steigung von 15 %. Oben war es noch Schotter, mehr als die Hälfte der Abfahrt war aber geteert. Es war eine Belastungsprobe für unsere Bremsen und ein Balanceakt zwischen Vorsicht und Leichtsinn.
In Ono San Pietro warteten wir auf Sigurd und Helmut. Mit der Zeit fragten wir uns, ob sie wohl zur am Vortag eingeübten Technik des Schiebens zurückgekehrt waren.
Schließlich kamen Sie, wie immer gleiches Trikot, gleicher Helm und leider auch gleiches Fahrrad. Das Problem waren ihre teuren Formula-Bremsen. Offenbar dehnte sich die Bremsflüssigkeit durch die Reibungshitze so stark aus, dass die Bremsklötze auf die Scheibe gepresst und das Rad blockiert wurde. So mussten sie mehrere Zwangspausen machen, während wir mit unseren billigen Avid-Bremsen alles in einem Strich fahren konnten.

Die Schadenfreude und die malerischen Ortsdurchfahrten auf den nun sachte abfallenden Straßen nach Breno verdrängten die Gedanken an den vor uns liegenden Anstieg.

In den Internetforen war die vorherrschende Meinung: „Fahrt auf der Straße zum Passo di Crocedomini!“
Ich habe also mit Basecamp Alternativen weiter südlich gesucht, geplant, verworfen, wieder aufgegriffen und dann so lange gerechnet, bis ich sie für fahrbar hielt.
Nach unseren Erfahrungen mit meiner Alternative kann ich nur sagen: „Fahrt auf der Straße zum Passo di Crocedomini!“

Von Breno aus kurbelten wir über Bienno nach Prestine hinauf. Dort gab es einen Trinkwasserbrunnen und wir tankten unsere Flaschen voll. Jetzt begann der eigentliche Anstieg. Hinter dem Ort ging es über eine kleine Brücke und dann forderte der Berg die 15 % des Vormittags zurück. Erster Gang, Schwerpunkt nach vorne und Zähne zusammengebissen schoben wir zunächst die Kapitulation ein wenig hinaus und kurz darauf unsere Räder.
Gelegentlich keuchten Mountainbiker ohne Rucksack an uns vorbei. Dann wagten wir auch wieder einmal ein paar Meter.

Nach 1100 Höhenmetern, kurz vor der Malga Valdaione gönnten wir uns eine Mittagspause. Müsliriegel und unsere letzten Flüssigkeitsreserven standen auf der Karte.
Dann die Katastophe: Unser weiterer Weg war gesperrt. Der Verfasser des Verbots konnte kein Deutsch und wir kein Italienisch. Es ging aber irgendwie um hohe Geldbeträge und strenge Kontrollen.
Auf meinem Garmin fand ich eine Alternative, die uns eine Umkehr ersparen würde und wir entschieden uns, zwischen dem gesperrten Weg und dieser Alternative in geheimer Abstimmung, also mit geschlossenen Augen, zu entscheiden. Als das Ergebnis zum dritten Mal in Zweifel gezogen wurde, gab endlich doch jeder offen sein Votum ab und einvernehmlich begaben wir uns auf die Alternativroute.

Natürlich ging es weiter bergauf, aber man konnte fahren. Dann wurde der Weg zu einem Pfad und gleichzeitig wurde es flacher und wir beglückwünschten uns zu unserer Entscheidung. Man musste etwas steuern, es ging auch schon einmal über eine Wurzel oder eine Steinplatte und ein paar Meter rollte das Fahrrad dann und wann auch von selbst.
An der Malga Figarolo Superiore mündete unser Weg in das hohe Gras einer Kuhweide. Dem Track auf meinem Navi folgend schoben und trugen wir unsere Bikes an eine Felswand heran, die kein Weiterkommen zuzulassen schien.

Helmut begann etwas zu quengeln und murmelte gelegentlich Dinge, die sich wie „Ist es noch weit?“ oder „Sind wir schon da?“ anhörten.

Mein Track endete in einem Dschungel aus Himbeersträuchern, mannshoch und ohne eine einzige Frucht, obwohl mich inzwischen Hunger und Durst plagten.
Das Navi sagte „Weiter, nur noch ein Katzensprung bis zur Straße“.
Mit meinem Mountainbike begann ich eine Schneise in die Vegetation zu schlagen während die anderen abwarteten, wann ich aufgeben würde.
Nach zwanzig Minuten war ich durch, hatte die Felswand umgangen und konnte schwach die Überbleibsel des Weges erkennen, der hier einmal entlangführte.

Mit Bergführersonar lotste ich die Anderen zu mir hinauf: „Wo bist Du?“, „Hier!“, „Wo?“, „Hallo!“, „Sch…“, …
Obwohl nun ein Ende absehbar war, hatte Helmuts Laune sich nicht spürbar verbessert. Offenbar begann er, die Erfahrungen der letzten beiden Tage zu addieren und über das Vorzeichen des Ergebnisses machte ich mir keine Illusionen. „Reine Umweltzerstörung!“ und „Kein Fahrradgelände!“ waren nur zwei der Bewertungen für den aktuellen Verlauf unserer Expedition.
Im wahrsten Sinne über Stock und Stein fanden wir kurz unterhalb des Giogo dela Bala auf unseren geplanten Track zurück.

Mit 2136 Meter ist dieser Pass der höchste Punkt des Tages und liegt runde 1800 Meter über Breno.

Die breite Piste auf die man dort gelangt, ist zwar nicht geteert, darf aber auch von Pkw befahren werden.
Eine Mücke setzte sich auf meinen Arm, stach zu und vertrocknete innerhalb weniger Sekunden zu einer Mumie. Ich begann Ausschau nach überfahrenen Tieren zu halten.
Gerhards Flaschen waren ebenso leer wie meine eigenen und auch die Zwillinge hatten nur noch so wenig, dass wir uns nicht getrauten, sie danach zu fragen.
Nach endlosen zwanzig Minuten erreichten wir das Albergo Dosso Alto.

Sigurd schlug vor, bis Anfo weiterzufahren. Das war bereits verdächtig.
Gerhard und ich setzten uns durch und wir bestellten vorsorglich acht alkoholfreie Biere die nach erneut endlosen zwei Minuten auch kamen. Acht Fläschchen und ein Flaschenöffner. Die Kohlensäure hatte keine Chance, als erster die Flasche zu verlassen und bevor Sigurd „Prost“ sagen konnte, hatten wir bereits die zweite Flasche geöffnet.
In Gerhards Gesicht glätteten sich die ersten Falten, ich konnte meine Augenlider wieder bewegen und Sigurd und Helmut nippten lustlos an ihren Getränken.
„Ich gehe meine Flaschen auffüllen. Soll ich Eure mitnehmen?“, bot ich an.
Ein kurzer Blickwechsel und die Zwillinge kamen wie immer zu einer gemeinsamen Entscheidung. Sie hätten jeder noch eine volle Flasche im Rucksack und es sei nicht nötig, erklärten sie mir.

Mit dieser Antwort hatten sie verständlicherweise jeden Anspruch auf die beiden noch verbliebenen Biere verloren und mein schlechtes Gewissen, wegen des Ausflugs in die Wildnis verflüchtigte sich ebenso schnell wie mein drittes Bier.

Es gab noch einen kleinen Gegenanstieg zum Passo Dosso Alto, aber den bemerkten wir kaum. Die Straße, nach wie vor unbefestigt, verlief hier zwischen einer schroffen Felswand auf der linken und einem ebenso schroffen Abgrund auf der rechten Seite. Überall bildete der Fels Türme und Türmchen, die sich der Schwerkraft und der Erosion hoffentlich noch lange widersetzen können.
Auf etwas Unwillen stießen wir bei entgegenkommenden Autofahrern, da wir immer nach links auswichen. Rechts gab es alle fünf Meter einen Metallpfosten und dazwischen jede Menge Anlass zur Höhenangst.

Am Rifugio Baremone beginnt eine Traumstraße für Motorradfahrer. Durch 22 Kehren rollten wir hinunter nach Anfo. Es war ein versöhnlicher Ausklang für eine anstrengende und unglücklich verlaufene Etappe.
Heute, aus der Entfernung, war es aber trotzdem ein Abenteuer, an das ich mich gerne erinnere.
Im Hotel al Lago fanden wir eine preiswerte Unterkunft direkt am See und dort genossen wir später auch erstklassige Pizzen, deren Qualität vielleicht auch etwas durch unseren Hunger beeinflusst war.

Den Weg durch die Beerensträucher hat inzwischen ein umsichtiger Kartograph bei OSM gelöscht. Es mag sein, dass ich es selbst war.

Vorherige Etappe Nächste Etappe